Die verzauberte Wiese Sie begann gleich hinter der Kirche, die große Löwenzahnwiese. Auf einer Seite war sie wie an den Wald gelehnt und oben schien sie den Himmel zu berühren. Tausende von gelben Löwenzahnblumen, die wie kleine Sonnen flammten, leuchteten im Frühling. Wenn man lange hinsah, verschmolzen sie zu einem einzigen, gelben Ball, zu einer großen Sonnenblume. Wenn man von der stillen Dorfstraße herkam und die sanften, blauen Wolken über die Wiese ziehen sah, blieb man unwillkürlich vor dieser riesigen, sonnengelben Wiese stehen, die wirkte so unwirklich, so als würde sie sich in der Nähe auflösen. Am Abend war der gelbe Berghang immer wie verschleiert. Bis zum späten Nachmittag aber war sie klar, dann spiegelte sich noch der Kirchturm in ihrem Gelb, das Summen der Bienen war zu hören und das sanfte Schweben der Zitronenfalter zu spüren. Am Abend war es bei der Wiese still. Dann wirkte sie wie verzaubert. „Trinkt, o Augen, was die Wimper hält, von dem goldenen Überfluss der Welt“, sagte Gottfried Keller. Und immer, wenn ich diese Worte sage, dann denke ich, dass er eigentlich nur diese Löwenzahnwiese gemeint haben könnte, denn nirgendwo anders war so viel „goldener Überfluss“. Als Kind glaubte ich, dass dort Elfen und Gnome hausten, und ich hörte, wie der Wind, der dort durch die hohen Gräser brauste, so seltsame Melodien sang. Die Wiese schien immer voller Melodien zu sein und ihre tausend kleinen Sonnen schienen immer etwas zu lispeln. Später im Jahr, wenn aus ihnen dann Tausende von weißen Pusteblumen wurden, war es, als würde die Wiese Flügeln bekommen und Gefieder. So, als wolle sie jetzt fortschweben in eine andere Welt.
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Aus Augenfreundliche Reihe Nr. 150